Dienstag, 17. November 2015

ITALIEN - Von Kaisern und Vögeln. Ein Wochenende in Grado

30.Oktober 2015. Den gestrigen  internationalen „Tag des Schlaganfalls“ habe ich gerade noch überstanden. Doch heute frühmorgens bin ich am Ende. Schreckliche Fratzen und Krankenschwestern mit blutigen Kitteln blicken mir aus der Zeitung entgegen. Und  US-Schauspielerin Tippi Hedren (85; Viennale-Stargast, Melanie Griffith-Mutter), im Hitchcock-Horrorklassiker das junge, blonde „Vögel“-Opfer, besucht erstmals Wien und erklärt, dass sie ihren Geschmacksinn verloren hat und einst von „Psycho“-Alfred sexuell bedrängt wurde. Halloween ist da, Allerheiligen droht.

Es ist Zeit für einen Tapetenwechsel. Aber plötzlich. Binnen Sekunden fällt die Entscheidung: wir (meine Frau Lore und ich) waren noch nie im italienischen Grado, wo es dieses Wochenende untertags keine Wolken und über 20 Grad haben wird. Binnen Minuten ist ein Hotel im Internetz gefunden: das Grand Hotel Astoria, gleich an der Uferpromenade. Sicherheitshalber mit Innenpool und gewärmtem Meerwasser. Binnen zwei Stunden sind wir auf der Südautobahn. Dieses Mal verzichten wir auf die brutalen 28 PS meiner Ente und nehmen das schnellere Zweitauto. Wir erleben den farbenprächtigen Indian Summer in der Steiermark und in Kärnten daher nur durch die Windschutzscheibe und nicht durch das offene Rolldach des Citroen 2cv.  Auf der Pack sind wir kurz im Nebel, bald nach der Grenze, im immer wieder faszinierenden Kanal-Tal , sind wir bereits im Adria-Hoch und auf der „strada del sole“.  Die Gipfel der nach dem römischen Kaiser Julius Cäsar benannten Julischen Alpen leuchten uns entgegen, neben uns tröpfelt inmitten von riesigen Schotterflächen das hellblaue Rinnsal des Tagliamento-Flusses. Die Vorfreude steigt.

Fünf Stunden benötigen wir für Wien-Grado. Entspanntes Fahren, da es in der Nichtsaison auf den Autobahnen keine Touristenbusse, holländische Wohnwägen und immer die linke Spur blockierende Skodas gibt.  Auf den letzten Kilometern fahren wir durch die alte Römerstadt Aquileia, sehen links die Säulen des ehemaligen Forum Romanum, auf dem einst neben Gajus Julius auch „unser“  Kaiser Mark Aurel spaziert ist. Hier werden wir bei unserer Rückfahrt am Sonntag einen Besichtigungsstopp einlegen müssen,  der Ort ist Weltkulturerbe!  

Kein Gitterzaun, sondern eine besondere Baumaßnahme!

Locker und ohne sommerlichen Kolonnenstau passieren wir auch Damm und Brücke, die das Festland mit der Laguneninsel verbinden. Sehen erstmals das Meer, sind in Grado, das „Isola del Sole“ genannt wird. Im Sommer ist es leicht, Sonneninsel zu sein, aber Spätsommersonne, ja Kaiserwetter, zu Allerheiligen ist ziemlich überzeugend. Unser Navi ist einbahnmäßig nicht auf dem letzten Stand, daher irren wir durch das Stadtzentrum. Fahren am Yachthafen vorbei, durch die fast menschenleere (somit auch polizistenfreie) Fußgängerzone.  Schlussendlich erreichen wir das feine, nicht richtig ausgebucht wirkende Astoria. Am Eingang lacht uns ein Doppeladler entgegen.


Als wir  leicht hungrig und schwer neugierig das Hotel wieder verlassen, ist die Sonne bereits untergegangen. Nun geht es Schlag auf Schlag: nach nur einhundert Metern betreten wir die Piazza Biagio Marin sehen die Reste einer ab dem vierten Jahrhundert erbauten Basilika.

Sehr eindrucksvoll bei Nacht...
...doch genauso beeindruckend am nächsten Tag

Wir spazieren weiter. Von rechts oben winkt uns eine Figur von der Turmspitze der angestrahlten Eufemia-Kathedrale. Das Haupttor der Basilika ist schon  geschlossen, aber links ist eine Tür spaltbreit geöffnet. Durch sie dringt Musik. Natürlich schlüpfen wir rein, sind im nur spärlich beleuchteten Kirchenschiff, sehen Säulen, das Holzdach, ganz vorne ein großes Fresko in der Apsis. Wir können heimlich einer beeindruckenden Chorprobe beiwohnen.



Nur ein paar Meter sind es von der Kirche zum Duca d‘Aosta-Platz. Wir betreten das "L'Osteria" und lernen Gianni kennen. Weißer Schnurrbart und schwarze Brille. Er war lange Jahre in der nahen Trattoria all’Androna tätig, die sich in den engen Gässchen der Altstadt fast versteckt. Heute führt er mit Partner Paolo, Koch und dem am Fischmarkt gefürchtetsten Einkäufer, sein eigenes Restaurant. Sein Slogan sagt alles: "wo sich terra und mare treffen". Wobei uns das Meer bzw. seine Fische und Meeresfrüchte natürlich mehr interessieren. Ein weiterer Vorteil der Nachsaison: wir können uns unseren Tisch (natürlich im Freien) aussuchen, die Kellnerin ist sofort bei uns. Freundlich und unausgelastet. Abends ist es recht frisch, doch wir sind entsprechend ausgestattet und spüren die acht Grad und den leichten Wind nicht. Ich wähle Zuppa al Cozze, eine große Schüssel Miesmuscheln in hervorragender Paradeiser-Knoblauch-Weißwein-Brühe, Lore muss einfach Spaghetti con calamari probieren. Wir verzichten auf den danach  angebotenen Grappa, bleiben stockkonservativ beim vino bianco. Ein erfreulicher erster Tag.

Samstag. Gleich nach dem reichhaltigen Frühstück fahren wir in den siebenten Stock unseres Hotels. Von der Terrasse (mit nettem Dachpool) haben wir einen perfekten 360 Grad-Orientierungsblick. Ich erkenne unsere Kirche und die Windfahnen-Figur: eingeklemmt zwischen zwei Blitzableitern rotiert der bronzene Erzengel Michael im leichten Wind. Wir betrachten die Dächer der Altstadt, die leeren Strände, einige Inseln. Zwei Krähen sitzen visavis auf einem häßlichen Appartmenthaus-Betonblock, der sich direkt zwischen Promenade und unser Hotel drängt. Deswegen steht in der Zimmerbeschreibung: teilweiser Meerblick.

 
Der rotierende San Michele

Der nachfolgende Ausritt auf dem Fahrrad des Doppeladler-Grandhotels verleiht unserem Ausflug eine leicht monarchische Stimmung. Diese wird noch verstärkt, als wir bei der Fahrt auf der fast leeren Strandpromenade ein weiteres k&k-Symbol entdecken.  Durch Zufall wandle ich direkt auf Franz Josef’s Spuren und bin dort, wo selbst der Kaiser zu Fuß hinging. Das ist in diesem Fall aber nicht der kleine Thron eines imperial-stillen Örtchens, sondern die Tür zum Strand des kaiserlich-königlichen Seebades Grado.  Den seine Majestät, von seinem Gästehaus (der heute noch stehenden Villa Erica) kommend , durch einen eigenen Durchgang im Zaun betrat.  Deutlich sind das „FJ“ und der Doppeladler zu erkennen.

Es hat uns sehr gefreut...


Seriöse Historiker berichten, dass der Kaiser und seine Sisi höchst uneinig darüber waren, ob zur Kontrolle der in das seit 1892 bestehende k&k Strandbad strömenden Massen an der Kassa nur ein Beamter oder vielleicht doch eine „technische Barriere“ oder eine „besondere bauliche Maßnahme“ erforderlich wäre. Natürlich nicht zur Abwehr, sondern höchstens zur „Drosselung und Entzerrung“ des täglich überraschend anstürmenden Badevolkes. Eine Debatte, die nach über 120  Jahren fast irreal wirkt, aber doch irgendwie Erinnerungen an die Gegenwart auslöst. Doch nein, so ein Streit ist undenkbar, könnte heute sicher nicht mehr vom Zaun gebrochen werden.

Wir fahren weiter auf der Promenade, einmal tollkühn bis ans Ende einer Mole, spazieren bloßfüßig im Sand und stecken zwei Zehen (also jeder eine) ins kalte Meer.

 

Später sonnen wir uns allein auf der leeren Terrasse eines im Sommer sicher überfüllten Strandlokals. Fühlen uns von ein paar kreischenden Möwen beobachtet. Keine Möwen oder Adler finde ich in Grado Pineta, dem östlichsten Strandteil von Grado. Hier regieren Flugdrachen, wir sind im Zentrum der Kitesurfer. Grado ist dafür eines der besten Reviere des Mittelmeers mit ganzjähriger Saison.


Mittagspause auf der Hotelterrasse. Es ist spätsommerlich warm, das Bier schmeckt. Urlaubsfeeling. Neben uns sitzt eine Frau im Bademantel, die die (etwas) jüngere Schwester von Tippi Hedren sein könnte. Also nicht, weil sie auch einmal von Alfred Hitchcock sexuell belästigt wurde, sondern weil sie auch ein Problem mit Vögeln hat. Zuerst ist es nur eine Krähe, die neugierig unsere Dachterrasse umfliegt. Doch dann haben  – wie im Film – auch einige Möwen unsere Tischnachbarin entdeckt. Stürzen sich auf sie. Lore kann nicht helfen, sie muß ihren Aperol-Spritzer beschützen. Halloween-Horror live - mittags, gleich neben uns. Der heilige Michael ist auf Augenhöhe und unser Zeuge. Eine Fotostrecke des Schreckens...

 


Angreifen macht durstig

Poolinvasion

Rechts geht es zum Notausgang bei Möwenattacken
Wir flüchten und wollen einen Angstschweiss reduzierenden Nachmittagsausflug unternehmen. Fahren mit dem Rad zum menschen- und vogelleeren Strand Costa Azzura, zum alten Hafen, dann wieder in die Altstadt. Doch das Grauen geht weiter, Halloween verdichtet sich. Es gibt offenbar kein Entrinnen.


Erschöpft lassen wir uns in der "Stamm"-Trattoria nieder. Nur Gianni hat ein Abwehrsystem, lässt die kleinen Monster und Möwen nicht in sein Lokal. Notgedrungen müssen wir bei ihm ein bisschen Weisswein verkosten und ein zweites Mal zu Abend essen. Diesmal nimmt Lore die Muscheln, ich wähle die lokale Spezialität Boreto, Steinbutt mit spezieller (leider zu geiler) Sauce. Karaffen später schlafen die Möwen. Auch die kleinen Monster und Hexen haben bereits einen übersüßten Magen, schleppen sich nach Hause. Wir können in Ruhe und entspannt zurück ins Hotel.

Sonntag. Arrivederci, Grado! Bei der Fahrt über den Damm fällt mir der rechts verlaufende Radweg auf. Er ist von der Straße getrennt, gut gesichert, und begleitet uns die nächsten Kilometer über Belvedere und Aquileia bis Cervignano (Teil einer internationalen Radverbindung zwischen Alpen und Adria). Verblüffend gerade, denn man hat ihn teilweise auf der 1950 aufgelassenen Trasse der alten Bahnverbindung von Cervignano (einst Grenze zwischen Österreich und Italien) nach Grado gebaut. In Aquileia steht heute noch der alte Bahnhof. Relikt der k&k Friaul-Bahn, die einst Triest und Venedig verband und natürlich auch  eine durchgehende Fahrt von/nach Wien ermöglichte. Das seit 1797 zum Habsburgimperium gehörende Grado und sein Seebad mussten natürlich eine Bahnanbindung mit der Kaiserstadt haben.

Der Adler hat mit der Stadt Aquileia nichts zu tun, obwohl  er auf Latein „aquila“ heißt.  Auch der Doppeladler ist hier längst verschwunden. Nur ein paar einsame (von ihren Halloween-Hexen verlassene) Raben fliegen um den hohen Glockenturm, der aus Steinen eines altrömischen Amphitheaters gebaut wurde. Wir stehen auf dem großen Platz davor und sind schwer beeindruckt.

Die Basilika ist die Mutterkirche von Friaul-Venetien, hat aber auch große Bedeutung in den östlichen Nachbarländern. Doch vor allem: hier befindet sich einer der größten und außergewöhnlichsten Mosaikböden der Welt. Aus dem 4.Jahrhundert, entdeckt erst 1909.


Auch innen ist es vögelig. In der Kirche treffe ich auf einen Hahn.

© www.testudowelt.de

Er steht  für Licht, Himmel und das Gute und kämpft mit einer hässlichen Schildkröte, die das Böse und die Finsternis symbolisiert. Eigenartig. Da lob ich mir den Buddhismus, da steht die von mir geschätzte Schildkröte für Langlebigkeit und Weisheit.

Auch Aquileia dokumentiert seine Langlebigkeit mit Ausgrabungen und Museen. Das Lager wurde 181 v. Chr. gegründet, war später eine der bedeutendsten Städte des römischen Reiches. Ist damit eine der wichtigsten archäologischen Stätten Norditaliens und seit 1998 UNESCO-Weltkulturerbe. Ziemlich unerwartet mutieren wir vom Strandläufer und Vögelopfer zum Kulturreisenden. Ein hochinteressanter Abschluß eines gruselig-schönen Urlaubs.

15.November 2015. Zwei Wochen brauchte ich, um diesen historisch und touristisch wertvollen Schmunzelblogbeitrag fertig zu stellen. Schließlich gibt es ja noch unser Reisebüro, Kunden wollten beraten, Reisen mussten verkauft, Reiseprogramme getextet und Fachveranstaltungen (nein, noch kein Punsch) besucht werden. Und Ende der Woche geht es schon nach Vietnam, ins nächste Land mit kaiserlicher Vergangenheit. Nur: heute war ich zuerst unsicher, ob ich den Text überhaupt ins Netz stellen soll. Denn genau zwei Wochen nach unserem Aufenthalt im italienischen Badeort gibt es den echten Horror, das reale Böse, rabenschwarz gekleidete Terrorkiller und Totengedenken. In der französischen Hauptstadt. In einem Club, in dem die Band „Eagles of Death Metal“ auftrat, kreiste der Todesadler. Doch ich lasse mir das Schmunzeln nicht verbieten. Im heutigen "Kurier" finde ich, passenderweise von einem Herrn Schwarz geschrieben:  „…wenn man sich den Alltag, den Unernst…verbietet, wenn Angst und Entsetzen obsiegen, dann hat der Terror sein Ziel erreicht…“.  Io sono Grado, aber viel mehr: je suis Paris!

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